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Wie Telepolis seine Vergangenheit löscht: Ein Lehrstück über Cancel Culture im Medienbetrieb

by dr
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Die Entscheidung des Online-Magazins Telepolis, rund 50.000 Artikel aus der Zeit vor 2021 aus dem Archiv zu entfernen, sorgt für heftige Kritik und wirft Fragen nach der Erinnerungskultur im digitalen Zeitalter auf. Kritiker sprechen von „stalinistischer Cancel Culture“, da ein bedeutendes Stück Mediengeschichte scheinbar mit einem Mausklick ausgelöscht wurde. Was einst als experimentelles, kontroverses und diskussionsfreudiges Portal galt, scheint sich nun von der eigenen Historie zu distanzieren, angeblich im Namen der Qualität. Die Frage ist: Was heißt es, wenn ein Medium ganze Epochen auslöscht, statt sie als zeitgeschichtliches Dokument zu erhalten? Und welche Auswirkungen hat dieses Vorgehen auf die Meinungsvielfalt und den intellektuellen Diskurs? Wer entscheidet darüber, was „wertvoll“ ist und was nicht, und was sagt diese Entwicklung über den gegenwärtigen Umgang mit Geschichte aus? Ein genauerer Blick auf die Hintergründe und die Argumente beider Seiten zeigt, dass mehr auf dem Spiel steht als nur ein paar alte Artikel.

Hintergrund und Kontext

Telepolis gehört zu den ältesten Online-Medien Deutschlands. Seit den 1990er Jahren bot das Magazin Raum für Debatten, abweichende Meinungen und kontroverse Positionen. Viele Artikel aus jenen frühen Jahren sind heute zwar zeitlich überholt, aber dennoch wertvoll, weil sie Entwicklungslinien aufzeigen, Fehlprognosen dokumentieren und eine andere Medienlandschaft widerspiegeln. Dass nun sämtliche Beiträge vor 2021 gelöscht wurden, überrascht und irritiert langjährige Leser ebenso wie Journalisten, die um die Bedeutung historischer Archive wissen.
Die offizielle Begründung seitens der neuen Telepolis-Verantwortlichen lautet, man könne für die Qualität der Altbestände nicht mehr garantieren. Kritiker halten das für vorgeschoben und sprechen von Geschichtsklitterung. Das „Ausmisten“ alter Texte könnte weniger ein Qualitäts- als vielmehr ein Gesinnungsakt sein, ein Versuch, Vergangenes an heutige ideologische Maßstäbe anzupassen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass hier ein Stück Mediengeschichte „gesäubert“ wird, um heutigen Trends zu gefallen.

 

Vergleiche mit totalitären Praktiken

Die scharfe Kritik kommt nicht von ungefähr. Wenn Beobachter den Vorgang mit stalinistischer Geschichtsbereinigung vergleichen, tun sie dies nicht, um den Terror der Sowjetdiktatur zu verharmlosen, sondern um auf ein bekanntes Muster hinzuweisen: Die Vergangenheit wird umgeschrieben, unerwünschte Elemente werden getilgt, um ein genehmes Narrativ durchzusetzen. Auch wenn Telepolis keineswegs mit einem totalitären Regime gleichzusetzen ist, erinnert die selektive Löschung an ein Vorgehen, bei dem Geschichte zum Spielball aktueller Machtverhältnisse wird.
Die Medienlandschaft war immer ein Raum der Auseinandersetzung. Unterschiedliche Sichtweisen stoßen aufeinander, aus kontroversen Debatten entstehen neue Erkenntnisse. Wenn nun ein Medium wie Telepolis seine eigene Vergangenheit ausradiert, vermittelt es den Eindruck, dass bestimmte Meinungen, die einst zulässig waren, heute nicht mehr akzeptabel sind. Anstatt diese Positionen historisch einzuordnen und kritisch zu betrachten, werden sie einfach entfernt. Das verhindert, dass wir aus der Vergangenheit lernen. Wer etwa verstehen will, wie sich die öffentliche Meinung zu Technologie, Politik oder Kultur verändert hat, ist auf Archive angewiesen. Werden diese zerstört, geht ein wichtiges Stück kollektiven Wissens verloren.

Der Deckmantel der „Qualitätsoffensive“

Die offizielle Rechtfertigung der Telepolis-Redaktion, es handele sich um eine „Qualitätsoffensive“, erntet Spott und Empörung. Denn was ist Qualität im Journalismus? Ist es nicht gerade die Aufgabe eines Mediums, die Entwicklung seiner Inhalte sichtbar zu machen, inklusive früherer Irrtümer und überholter Positionen? Nur wer die eigene Historie kennt, kann daraus lernen. Wer jedoch pauschal alte Artikel löscht, folgt einem simplen „Aus den Augen, aus dem Sinn“-Prinzip. Das ist keine Qualitätsoffensive, sondern eine Geschichtsbereinigung.
Zudem bleibt unklar, wer entscheidet, was „Qualität“ ist. Werden künftig auch heute aktuelle Artikel in ein paar Jahren gelöscht, weil sich die Maßstäbe wieder ändern? Ist das Ganze ein endloser Prozess, bei dem immer wieder Teile des Archivs verschwinden, sobald ein neuer Zeitgeist aufkommt? Der Verweis auf angeblich fehlende Qualitätsstandards klingt hohl, wenn man bedenkt, dass viele dieser alten Texte einst sorgfältig redigiert und dokumentiert waren. Qualität im Journalismus bedeutet nicht, die Vergangenheit zu verstecken, sondern ihr offen und selbstkritisch zu begegnen.

Betreutes Lesen und Herrschaft über das Gedächtnis

Eine weitere Sorge, die Kritiker äußern, ist die Idee des „betreuten Lesens“. Wenn ein Medium entscheidet, welche Inhalte der Vergangenheit heute noch lesenswert sind, bevormundet es sein Publikum. Der Leser oder die Leserin soll offenbar nicht selbst entscheiden, was interessant oder lehrreich ist. Stattdessen kümmern sich Redaktion oder externe Instanzen darum, das Archiv zu „bereinigen“. Das erinnert an ein pädagogisches Konzept, bei dem dem Publikum die Fähigkeit abgesprochen wird, selbst beurteilen zu können, wie es mit historischen Texten umgeht.
Doch gerade in einer pluralistischen Gesellschaft sollten wir dem mündigen Bürger zutrauen, alte Texte kritisch zu lesen und einzuordnen. Historische Dokumente sind keine Blaupausen für heutiges Denken, sondern Zeugnisse einer anderen Zeit. Sie können provozieren, verstören, zum Nachdenken anregen – und genau darin liegt ihr Wert. Das Entfernen solcher Inhalte bedeutet, dass wir unsere Fähigkeit verlernen, mit historischen Diskursen umzugehen. Wenn die Vergangenheit immer neu an den aktuellen Zeitgeist angepasst wird, verliert sie ihren Wert als Quelle des Lernens. So entsteht ein geschöntes, geglättetes Weltbild, in dem nur noch das präsent ist, was den heutigen Machthabern, Meinungsmachern oder selbsternannten „Wahrheitswächtern“ genehm ist.

Der Einfluss externer Bewertungsdienste

Ein besonders irritierender Aspekt ist der Verweis des neuen Telepolis-Chefredakteurs auf sogenannte Bewertungsportale wie NewsGuard. Diese Art von Plattformen bewertet Medien anhand fragwürdiger Kriterien und legt fest, was als vertrauenswürdig gilt. Kritiker sehen darin ein Instrument, um den Diskurs zu steuern. Dass sich Telepolis offenbar auf solche externen Instanzen beruft, verstärkt den Verdacht, dass es hier weniger um interne Qualitätskontrollen als um politische und ideologische Anpassungen geht.
NewsGuard, Correctiv und ähnliche Projekte stehen im Verdacht, selbst von bestimmten Interessengruppen beeinflusst zu sein. Sie geben vor, den Qualitätsjournalismus zu fördern, doch in der Praxis entscheiden sie oft nach intransparenten Kriterien, welche Medien als „seriös“ gelten dürfen. Wer sich solchen externen Wächterinstanzen unterwirft, macht sich abhängig und verliert seine journalistische Eigenständigkeit. Für ein Magazin, das einst für seine kritische Haltung und seinen Mut zu kontroversen Themen bekannt war, ist dies ein problematisches Signal. Statt sich auf die eigene Redaktion und die Urteilskraft der Leser zu verlassen, setzt Telepolis nun offenbar auf externe Maßstäbe – ein Schritt, der den Verdacht bestätigt, dass hier tatsächlich Cancel Culture am Werk ist.

Fazit: Verlust an Tiefe, Geschichte und Freiheit

Die Löschung der alten Telepolis-Artikel ist mehr als nur eine redaktionelle Entscheidung. Sie steht symbolhaft für eine Tendenz, historische Inhalte den aktuellen Normen anzupassen und dabei die Vergangenheit aus dem kollektiven Gedächtnis zu entfernen. Was übrig bleibt, ist ein verarmter Diskurs, in dem Streitpunkte und unbequeme Wahrheiten über Bord gehen, weil sie nicht mehr in die heutige Landschaft passen.
Dies schwächt nicht nur das Medium selbst, sondern auch das Verständnis für kulturelle und intellektuelle Entwicklungen. Wenn wir ganze Archive löschen, nehmen wir uns die Möglichkeit, Wandel nachzuvollziehen und aus Fehlern zu lernen. Eine Gesellschaft ohne Gedächtnis verliert ihre Tiefe, ihre Fähigkeit zur Reflexion und damit auch ein Stück ihrer Freiheit. Die Geschichte umzuschreiben oder auszulöschen ist nie ein harmloser Akt. Es ist ein Schritt, der das Fundament einer offenen, pluralistischen Gesellschaft untergräbt. Wer so vorgeht, mag kurzzeitige Effekte erzielen – doch der langfristige Schaden für Meinungsfreiheit und kulturelles Erbe ist immens.

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