42 Für viele Menschen ist das Smartphone weit mehr als ein technisches Gadget. Es ist ein eng verknüpfter Teil ihres Alltags – ein „zweites Gehirn“. Darin sammeln sich privateste Daten: Chats, Fotos, Kalender, Gesundheitsinformationen, Standorte, Passwörter, Kontaktdaten, die Historie unseres digitalen Lebens. Eine Zwangsentsperrung durch die Polizei greift nicht einfach nur auf ein Gerät zu, sondern dringt tief in die persönliche Sphäre ein.Umso beunruhigender wirken Urteile, die Zwangsentsperrungen eines Smartphones durch die Polizei ermöglichen, wie sie zuletzt das Oberlandesgericht (OLG) Bremen bestätigte. Dort hatte ein Beschuldigter sich geweigert, sein Handy via Fingerabdruck zu entsperren. Die Polizei setzte daraufhin körperlichen Zwang ein, fixierte ihn am Boden und entsperrte das Gerät gegen seinen Willen. Aus unserer Sicht ein gravierender Eingriff in die Privatsphäre – schließlich enthält ein Smartphone viel intimere Informationen als klassische Dokumente in einer Wohnung.Doch welche rechtlichen Grundlagen stützen diese Zwangsmaßnahmen? Und wie kann man eine solche Praxis mit dem Prinzip vereinbaren, niemand müsse zu seiner eigenen Überführung beitragen? Dieser Artikel betrachtet das jüngste OLG-Urteil, seine Hintergründe und warum wir glauben, dass die Zwangsentsperrung des „zweiten Gehirns“ ein bedenklicher Schritt in Bezug auf Bürgerrechte und informationelle Selbstbestimmung ist. Der zugrunde liegende Fall: Ein Tatverdächtiger wehrt sich gegen Fingerabdruck-Entsperrung Der Fall, der nun zum OLG Bremen gelangte, begann am 1. Februar 2023 mit einer Hausdurchsuchung. Der Beschuldigte stand im Verdacht, kinderpornografische Inhalte zu verbreiten. Während der Durchsuchung entdeckte die Polizei ein Smartphone, das mit Fingerabdruck geschützt war. Als die Beamten das Gerät per Fingerabdruck entsperren wollten, widersetzte sich der Verdächtige. Die Polizisten setzten Gewalt ein: Sie fixierten ihn am Boden, drückten seinen Finger auf den Sensor und entsperrten so das Mobiltelefon.Daraufhin wurde gegen den Beschuldigten ein Verfahren nicht nur wegen des zugrunde liegenden Delikts, sondern auch wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte eingeleitet. Das Amtsgericht Bremerhaven verhängte gegen ihn eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 10 Euro. Er ging in Berufung, die das Landgericht Bremen abwies. Schließlich legte er Revision ein, sodass der Fall vor dem Oberlandesgericht (OLG) landete.In seinem Beschluss vom 8. Januar 2025 (1 ORs 26/24) bestätigte das OLG Bremen die Rechtmäßigkeit der Zwangsentsperrung. Das Gericht beurteilte das Vorgehen der Polizei als korrekt und den Widerstand des Angeklagten als unzulässig. Das Urteil: Rechtliche Grundlage und Begründung § 81b StPO und seine AnwendungDas OLG Bremen stützt seine Entscheidung auf § 81b Abs. 1 StPO. Diese Vorschrift regelt grundsätzlich die Erhebung und Verwendung von biometrischen Merkmalen eines Beschuldigten, z.B. Fingerabdrücke, Fotos oder andere körperliche Merkmale, die für die Strafverfolgung relevant sein könnten. Im Regelfall ist § 81b StPO als Ermächtigung gedacht, um Personalien festzustellen, Lichtbilder zu machen und Fingerabdrücke abzunehmen.Dass das OLG diese Norm jedoch nun auf die unmittelbare Nutzung biometrischer Daten zur Entsperrung eines Smartphones auslegt, ist ein deutlicher Schritt. Laut Rechtsanwalt Jens Ferner, Fachanwalt für IT- und Strafrecht, ist besonders bemerkenswert, dass der Zweck von § 81b StPO hier erweitert werde: Statt nur die Erhebung der Merkmale (Fingerabdruck) zu gestatten, diene die Vorschrift laut Gericht auch dem „unmittelbaren Einsatz“ dieser Merkmale, um z.B. das Gerät zu entsperren.Verweis auf Durchsuchungs- und BeschlagnahmerechteDarüber hinaus stellte das OLG klar, dass die Durchsuchung und der Zugriff auf Daten letztlich über §§ 94, 110 StPO (Beschlagnahme und Durchsuchung digitaler Datenträger) legitimiert seien. Man benötige den Fingerabdruck, um den Datenträger (hier: das Smartphone) überhaupt in durchsucbaren Zustand zu bringen.Verhältnismäßigkeit und GrundrechtseingriffeTrotz massiver Grundrechtseingriffe – vor allem ins Recht auf informationelle Selbstbestimmung und körperliche Integrität – hält das OLG Bremen dies für verhältnismäßig. Begründet wird das mit dem hohen öffentlichen Interesse an effektiver Strafverfolgung, gerade bei Delikten wie Kinderpornografie. Da die Maßnahme „offen“ erfolgt (nicht heimlich) und lediglich ein einmaliges „Finger-Auflegen“ sei, stufe das Gericht die Intensität des Eingriffs als relativ gering ein.Wir hingegen argumentieren, dass das Smartphone ein „zweites Gehirn“ ist, also deutlich mehr als eine simple Datensammlung. Ob man so massiv in die körperliche Integrität eingreifen darf, um Zugang zu einem hochprivaten digitalen Bereich zu erzwingen, wirft aus unserer Sicht tiefgehende moralische und rechtliche Fragen auf. Kritik: Das Smartphone als „zweites Gehirn“ Tiefe Einblicke in PrivatsphäreDer Kern unserer Skepsis gegenüber Zwangsentsperrungen liegt darin, dass Smartphones im Alltag alles Mögliche speichern:Private Chats, E-Mails, MessengernachrichtenIntime Fotos, Videos, AudionotizenTermine, Kontakte, StandortverläufeZahlungsdaten, Bank-Apps, PasswörterGesundheitsdaten (Kalorien-App, Fitness-Tracker usw.)Damit haben Smartphones das Potenzial, intimste Lebensbereiche offenzulegen. Eine erzwungene Entsperrung bedeutet nicht nur, dass die Polizei die relevanten Daten des Delikts einsehen kann, sondern möglicherweise weit mehr, was nicht unmittelbar mit dem Tatvorwurf zu tun hat. Die Proportionalität zwischen Strafermittlung und massivem Eingriff in die Privatsphäre steht auf dem Prüfstand. Beweiserhebung gegen Willen des BeschuldigtenZudem widerspricht das einer grundsätzlichen Regel, dass niemand aktiv an seiner Überführung mitwirken muss („nemo tenetur se ipsum accusare“). Zwar argumentieren Gerichte, dass biometrische Daten wie Fingerabdrücke passiv erhoben werden dürfen, und somit keine Mitwirkungspflicht verletzt wird. Doch die Smartphone-Zwangsentsperrung stellt aus unserer Sicht eine erweiterte Form der Selbstbelastung dar, weil man das eigene Gerät für die Ermittler zugänglich macht. Debatte um Fingerabdruck versus PIN oder Passwort Ein wichtiger Aspekt dieser Diskussion ist die technische Methode der Entsperrung:Fingerabdruck oder Gesichtserkennung (Face ID) gelten als biometrische Verfahren. Durch Berührung oder Scan liegen diese Merkmale „außerhalb“ des Willens der Person, da man nur den Finger oder das Gesicht anhalten muss.PIN oder Passwort: Bei Wissen-basierten Entsperrmethoden muss der Betroffene aktiv etwas preisgeben oder eingeben.Rechtlich werden biometrische Zugänge teils anders bewertet als Passwörter. Gerichte argumentieren, dass das Erheben körperlicher Merkmale – ähnlich wie klassische Fingerabdruckabnahme – nicht unter die Selbstbelastungsfreiheit fällt. PINs oder Passwörter sind dagegen „Wissen“, das man nicht einfach erzwingen darf.Diesen Unterschied finden wir fragwürdig, denn das Resultat – der Datenzugriff – ist dasselbe. Zudem wird eine Person sehr wohl zu einer Mitwirkung an der eigenen Überführung gezwungen, wenn sie gegen ihren Willen fixiert und ihr Finger auf den Sensor gedrückt wird. Grundrechtsfragen: Integrität digitaler Systeme Das OLG Bremen erkennt zwar an, dass hier Grundrechtsfragen berührt sind. Es verweist aber darauf, dass § 81b StPO und die polizeilichen Zwangsmittel für eine solche Vorgehensweise ausreichen. Unter Juristen wird dieses Ausdehnen der Norm heftig diskutiert. Rechtsanwalt Jens Ferner kritisiert, dass die Norm eigentlich nur die Erhebung von Identifizierungsmerkmalen deckt, nicht aber deren direkte Verwendung an einem Gerät, um Inhalte preiszugeben.Zudem kommt das Grundrecht der Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme ins Spiel, das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z.B. „Online-Durchsuchung“-Urteil) verankert ist. Dort wurde betont, dass besonders sensible Datenbereiche unter erhöhtem Schutz stehen. Das OLG Bremen unterscheidet jedoch zwischen offenem und heimlichem Zugriff. Weil hier „offen“ gehandelt wird, sieht das Gericht weniger Strenge. Diese Differenzierung widerspricht aus unserer Sicht dem Charakter eines Smartphones als „zweites Gehirn“, denn die Privatheit der Daten ist unabhängig davon, ob die Polizei heimlich oder offen zugreift. Der konkrete Beschluss des OLG Bremen Der Beschluss vom 08.01.2025 (Az. 1 ORs 26/24) bestätigt die vorherigen Urteile:Die Zwangsentsperrung war rechtmäßig.Der Angeklagte habe sich unzulässig gegen eine rechtmäßige Vollstreckungshandlung gewehrt.Die Geldstrafe wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte bleibt bestehen.Zudem verweist das OLG darauf, dass die polizeilichen Maßnahmen „im öffentlichen Interesse an effektiver Strafverfolgung“ geboten waren, insbesondere bei schwerwiegenden Vorwürfen (wie die mutmaßlich kinderpornografische Nutzung). Eine Verletzung seines Rechts auf körperliche Unversehrtheit oder seine informationelle Selbstbestimmung sei hinzunehmen, weil der Eingriff als verhältnismäßig eingestuft wurde. Stimmen aus der Praxis Rechtsanwalt Jens Ferner Er hebt die besondere Rolle des Smartphones als hochsensibles Datenspeicher hervor und mahnt, die Ausweitung von § 81b StPO auf Smartphone-Entsperrungen kritisch zu hinterfragen. Zugleich ist die Rede von einer „Annexkompetenz“, die Zwangsmaßnahmen für einen erweiterten Zweck (Datenzugriff) legitimiert. Ferner sieht das zwar als folgerichtig im Lichte der immer bedeutsameren digitalen Beweise, betont aber, dass dieses Vorgehen die Abgrenzung zwischen Ermittlung und Grundrechten stark verschiebt. Kritik aus Bürgerrechtsperspektive Zahlreiche Datenschutz- und Bürgerrechtsorganisationen äußern, dass die Grundidee der Selbstbelastungsfreiheit angegriffen werde. Wenn es legal ist, eine Person zu fixieren und ihren Finger auf das Display zu drücken, könnte das zu immer weiterreichenden Maßnahmen führen, z.B. Zwang für Face ID oder Iris-Scanner. Die moralische Frage: Wie weit darf der Staat gehen, wenn es um den Zugriff auf privateste Sphären geht? Richterliche Neutralität Anderslautende Entscheidungen zeigen sich in Einzelfällen – z.B. gab es Gerichte, die Bedenken äußerten, ob biometrische Entsperrungen nicht doch in den Kernbereich der persönlichen Entschlüsselung fallen. Doch die aktuelle Tendenz in einigen Oberlandesgerichten geht in Richtung Legalisierung solcher Eingriffe. Unser Standpunkt: Ein Smartphone ist ein „zweites Gehirn“ Aus unserer Sicht wiegt die Smartphone-Privatsphäre extrem schwer. Smartphones protokollieren Lebensgewohnheiten, intime Gedanken und Kommunikation. Wir sind der Auffassung, dass man nicht gegen seinen Willen zur Entsperrung gezwungen werden darf – weder durch Fingerabdruck noch durch Gesichtserkennung. Eine solche Maßnahme öffnet die Tür für weitreichenden Missbrauch, da der Staat faktisch an sämtliche, auch unverdächtige Daten kommt.Wesentliche Kritikpunkte:Selbstbelastungsfreiheit: Auch wenn man nicht aktiv eine PIN eingibt, bedeutet die Zwangsfreigabe dennoch, dass der Beschuldigte selbst zum „Schlüssel“ seiner eigenen Beweismittel wird.Überverhältnismäßiger Eingriff: Einmal entsperrt, haben Ermittler theoretisch Zugriff auf unzählige weitere Informationen, die nicht unmittelbar tatbezogen sind.Rechtliche Lücke: Gesetze wie § 81b StPO wurden ursprünglich für Fingerabdrücke, Lichtbilder oder erkennungsdienstliche Maßnahmen konzipiert – nicht für das Entsperren digitaler Datenträger, die oft viel intimere Daten enthalten als ein Personalausweis.Daher erachten wir es als wünschenswert, dass der Gesetzgeber eindeutig klärt, welche Grenzen bei digitalen Beweismitteln gelten sollen. Smartphones als „zweites Gehirn“ müssen stärker geschützt werden, um einen Ausverkauf der Privatsphäre zu verhindern. Ausblick: Braucht es neue Gesetze? Das OLG Bremen-Urteil wirft die Frage auf, ob wir in Zukunft eine explizite Regelung für die Entsperrung digitaler Geräte benötigen. Schon heute wird diskutiert, ob der Gesetzgeber sog. „Entsperr-Anordnungen“ schaffen sollte, bei denen ein Richter die biometrische Zwangsmaßnahme genehmigen muss. So wäre immerhin sichergestellt, dass die Polizei nicht eigenmächtig in jeder Kleinigkeit das Telefon erzwingen darf.Doch parallel existieren Bestrebungen, die Befugnisse der Strafverfolger auszuweiten, weil digitale Beweismittel in fast jedem Fall relevant sind. Man kann also mit weiteren Vorstößen rechnen, die Entsperrungen gesetzlich ausdrücklich erlauben – ungeachtet, dass es unsere Meinung ist, so tiefe Eingriffe sollten nur in äußersten Ausnahmefällen, bei sehr schweren Delikten und mit strengen Kontrollmechanismen erfolgen. Fazit Das OLG Bremen hat bestätigt, dass eine Smartphone-Zwangsentsperrung per Fingerabdruck durch die Polizei zulässig ist, sofern die Maßnahme auf § 81b StPO und ggf. §§ 94, 110 StPO gestützt wird und verhältnismäßig ist. Ein Beschuldigter, der sich dagegen körperlich wehrt, begeht Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.Unser Fazit fällt kritisch aus: Ein Smartphone ist kein gewöhnliches Objekt, sondern enthält hochpersönliche Informationen und kann als „zweites Gehirn“ gesehen werden. Dass man es den Behörden gestattet, diesen Ort mit minimaler richterlicher Kontrolle per Zwang zu öffnen, halten wir für bedenklich. Klar ist: Bei schweren Straftaten mag es ein großes öffentliches Interesse geben, doch man darf den grundrechtlichen Kern – die informationelle Selbstbestimmung und das Prinzip, sich nicht selbst belasten zu müssen – nicht untergraben.Ob diese Rechtsprechung bestehen bleibt oder durch weiterreichende Gesetzesreformen ergänzt bzw. begrenzt wird, bleibt abzuwarten. Für Betroffene und Kritiker bleiben Fragezeichen, wie weit der Staat in die intimste Datensphäre der Bürger eingreifen darf und welche Rolle biometrische Sicherheitsfunktionen in Zukunft noch spielen werden. CybercrimeNachrichtenNetzpolitikRechtSicherheitUrteilUrteile Vorheriger Beitrag Gefälschte Steuerbescheide: So erkennen Sie Betrug und schützen sich Nächster Beitrag The Stargate Project: Droht uns ein reales Skynet oder ein Durchbruch für KI? You may also like Gebrauchte Seagate-Festplatten statt Neuware: Was steckt dahinter und wie erkennen Sie das? Januar 30, 2025 The Stargate Project: Droht uns ein reales Skynet oder ein Durchbruch für... Januar 28, 2025 Gefälschte Steuerbescheide: So erkennen Sie Betrug und schützen sich Januar 27, 2025 Netflix erhöht Preise erneut: Ist Inflation das Problem, oder sinkt auch die... 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